Unsere Geschichten

Wie eine „Koch-Influencerin“ vor über 100 Jahren den Vanillin-Boom auslöste

Die Geschichte des Vanillins, eines der weltweit meistgenutzten Aromastoffe, ist untrennbar mit der Erfindung der Vanillin-Synthese durch den Chemiker Wilhelm Haarmann verbunden. Seine Errungenschaft im Jahr 1874 war der Grundstein für die heutige Geschmacks- und Duftstoffindustrie und für das Unternehmen, das heute Symrise ist. Doch für den großen Durchbruch brauchte er Hilfe.

Obwohl der Erfolg wissenschaftlich bahnbrechend war, gab es seinerzeit in der Bevölkerung Vorbehalte gegen das künstliche Vanillin. Haarmann brauchte also einen Marketing-Stunt, und engagierte eine Kochbuch-Autorin. Was heute wohl Food-Influencer in den sozialen Medien wären, war damals Lina Morgenstern (1830 – 1909). Sie war eine bekannte Persönlichkeit, die sich als Sozialreformerin, Aktivistin, Pädagogin und Autorin einen Namen machte. Ihr Wort hatte Gewicht, das machte sich Haarmann zu Nutze und beauftragte Morgenstern um die Jahrhundertwende, das Kochbuch „Kochrezepte mit Anwendung von Haarmann & Reimers patent. Vanillin“ zu schreiben.

Das kleine und günstige Buch enthielt 39 Rezepte, die sich ausschließlich der Verwendung von Vanillin widmeten. Da der Aromastoff eine relativ neue Zutat war, spielte das Buch eine entscheidende Rolle bei der Popularisierung. Morgenstern präsentierte eine Fülle von Rezepten, die zeigten, wie Vanillin in der täglichen Küche verwendet werden konnte: von einfachen Kuchen und Gebäck bis hin zu exquisiten Desserts und Süßwaren bot das Buch der damaligen Hausfrau viele Möglichkeiten, das exotische Aroma der Vanille in ihre Speisen zu integrieren, ohne auf die teure und seltene echte Vanilleschote zurückgreifen zu müssen.

Die Vanille ist eine der feinsten, wohlschmeckendsten und aromareichsten Gewürze, weshalb die feinere Kochkunst sie auf die mannigfaltigste Art verwendet.Lina Morgenstern, Autorin

Das Vorwort des Buches heißt „Für die denkende Hausfrau“, dort schreibt Morgenstern: „Die Vanille ist eine der feinsten, wohlschmeckendsten und aromareichsten Gewürze, weshalb die feinere Kochkunst sie auf die mannigfaltigste Art verwendet.“ Die Frucht sei schwer konservierbar und teuer, jetzt aber würde es die Vanille als heimisches Produkt geben. Morgenstern erklärt die Vanillin-Synthese: „Nicht, dass wir in unserem Klima die fertigen Vanille-Schoten pflücken können, aber durch die bedeutende Erfindung zweier deutscher Forscher, des Dr. W. Haarmann in Holzminden und des Professors Dr. Ferd. Tiemann an der Königl. Universität zu Berlin, lässt sich der Körper, welcher allein das Aroma der Vanille-Schote bewirkt, künstlich aus leicht zugänglichen Naturstoffen hervorrufen. Was uns die spröde Natur in unseren Breitengraden versagt hat, das ringt ihr in heissem Drang nach Erkenntniss der Forscher ab“.

Die Autorin würdigt in ihrem Buch nicht die Errungenschaften der Chemiker, sie versucht auch die Ängste der Konsumenten vor Nebenwirkungen bei der Nutzung von Vanillin abzubauen, so schreibt sie: „Endlich ist der Geschmack noch wesentlich feiner als der durch Vanille hervorgerufene, weil in den Schoten noch Harze und Fette enthalten sind, die das feine Vanillearoma ungünstig beeinflussen. Diesen Nebenbestandteilen der Vanille wohnt auch die mit Recht gefürchtete nervenerregende Wirkung bei, während reines Vanillin (…) eine derartige Einwirkung auf den menschlichen Organismus nicht besitzt.“

Als namhafte Köchin hatte Morgensterns Wort gesellschaftliche Bedeutung: es spiegelte auch ihre Überzeugung wider, dass gutes Essen und kulinarischer Genuss allen Schichten der Gesellschaft zugänglich sein sollten. Haarmanns Marketing-Aktion hatte Erfolg: Sowohl Hausfrauen als auch Lebensmittelhersteller gaben ihre Zweifel am synthetischen Aroma auf. Insgesamt trug Morgensterns Buch maßgeblich dazu bei, dass Vanillin zu einem festen Bestandteil in der Lebensmittelindustrie wurde und ebnete den Weg für die Entwicklung weiterer synthetischer Aromastoffe.