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Mit der erfolgreichen Synthese und industriellen Herstellung von Vanillin begründete der Chemiker Dr. Wilhelm Haarmann die weltweite Duft- und Geschmacksstoffindustrie. Am 10. April 2024 jährt sich zum 150. Mal die Anmeldung des Patents für synthetisches Vanillin und die Genehmigung, diesen künftigen Kassenschlager exklusiv zu verkaufen.

Gustav Ludwig Friedrich Wilhelm Haarmann erblickte am 24. Mai 1847 das Licht der Welt. Seine bahnbrechende Synthese von Vanillin war nicht nur der Ausgangspunkt für das Unternehmen, aus dem später Symrise hervorgehen sollte, sondern auch der Startschuss für eine Branche, die in den letzten 150 Jahren zu einem wichtigen Teil der chemischen Industrie wurde. Mit gerade einmal 26 Jahren reichte Haarmann am 10. April 1874 seine Patentanmeldung für synthetisches Vanillin ein. Heute erzielt die Duft- und Geschmacksstoffindustrie weltweit einen Umsatz von über 40 Milliarden Euro und hat mehrere Nobelpreisträger hervorgebracht. Alles begann in einem kleinen Schuppen in Altendorf am Holzmindebach, im heutigen Niedersachsen.

Nach dem Abitur nahm Haarmann 1866 sein Chemiestudium an der Technischen Universität Clausthal auf. 1867 beschloss er, sein Chemiestudium in Göttingen fortzusetzen. Zwei Jahre später zog er nach Berlin, um sich dem prominentesten Chemiker seiner Zeit anzuschließen, Professor August Wilhelm Hofmann (1818 - 1892). Hofmann war aus England zurückgekehrt und hatte ein neues Institut gegründet, das zu den fortschrittlichsten chemischen Bildungseinrichtungen seiner Zeit gehörte.

Im Herbst 1871 war Haarmann auf der Suche nach einem Thema für seine Dissertation. Unterstützung erhielt er von seinem Freund und Kollegen Ferdinand Tiemann, der eine Untergruppe an Hoffmanns Institut leitete. Tiemann bot ihm eine Substanz zur weiteren Untersuchung an, bei der sein ehemaliger Studienkollege Wilhelm Kubel einen Vanilleduft festgestellt hatte. Die Idee, ein Naturprodukt zu synthetisieren, faszinierte Haarmann. Bevor es soweit war, musste er jedoch den Wirkstoff isolieren und charakterisieren.

Die Patentierung der Vanillin-Synthese am 10. April 1874 markiert die Geburtsstunde der globalen Duft- und Geschmacksstoffindustrie.Dr. Jean-Yves Parisot, CEO Symrise

Kubel hatte das Produkt von Theodor Hartig erhalten, einem Professor für Forstwirtschaft am Collegium Carolinum. Dieser hatte 1861 im Cambialsaft von Lärchen eine kristallisierende Substanz entdeckt, die später den Namen Coniferin erhielt. Als Cambialsaft wird die Flüssigkeit bezeichnet, die entsteht, wenn Bäume während der Bildung des jungen Holzes gefällt und entrindet werden und das verbleibende Cambium auf der Holzoberfläche mit Glasscherben abgeschabt und die abgeschabte Masse abgepresst wird.

1866 hatte Kubel die Substanz untersucht und festgestellt, dass es sich bei Coniferin um ein Glucosid mit einem Schmelzpunkt von 185 °C handelt, das sich bei höheren Temperaturen bräunlich verfärbt und einen eigentümlichen Karamellgeruch verströmt, bevor es schließlich verkohlt. Er hatte das Coniferin mit verdünnter Schwefelsäure hydrolysiert und eine harzige Substanz erhalten, die er zwar nicht identifizieren konnte, die während der Reaktion aber einen charakteristischen Duft nach Vanille verströmte. Kubel analysierte das Coniferin und bestimmte seine Zusammensetzung.

Für seine Doktorarbeit gewann Wilhelm Haarmann den Cambialsaft aus den Stämmen von Nadelbäumen, die während der Holzbildung zwischen Mai und Juli gefällt worden waren, und erhielt so 20 Gramm Coniferin. Er wiederholte die Arbeit von Kubel, konnte aufgrund der geringen Menge an Coniferin jedoch nur wenige Experimente durchführen. Haarmann verbrannte die Substanz und kam zu demselben Ergebnis wie sein Kollege Kubel. Anschließend hydrolysierte er das Coniferin durch Erhitzen mit verdünnter Schwefelsäure und erhielt neben Glucose eine Substanz, die Kubel bereits als Coniferetin bezeichnet hatte und die heute als Coniferylalkohol bekannt ist.

Im nächsten Schritt oxidierte er das Coniferin mit Kaliumdichromat in verdünnter Schwefelsäure, was eine heftige Reaktion hervorrief. Nach einigen Wochen setzten sich in dem erzeugten Destillat farblose Kristallnadeln mit aromatischem Geruch ab. Er behandelte die Kristalle mit einer Silbersalzlösung, was zur Bildung von elementarem Silber im Reagenzglas führte. Die Reaktion mit Natriumbisulfit ergab eine feste Substanz. Aus den Ergebnissen dieser beiden Reaktionen schloss er, dass es sich bei der entstandenen Verbindung um ein Aldehyd handeln musste. Deutlich einfacher war die Entfernung des Zuckers mithilfe des Enzyms Emulsin. Nach zwölf Stunden erhielt Haarmann eine weiße, kristalline Masse. Nach Abtrennung des Zuckers bildeten sich aromatische weiße Kristalle, die er Coniferogenin nannte.

Aufgrund der geringen Menge an Coniferogenin war es jedoch Haarmann nicht möglich, die Struktur dieser neuen Verbindung zu bestimmen. Er wusste auch nicht, wie er größere Mengen der aromatischen Substanz herstellen konnte. Haarmann und Tiemann beschlossen, die Arbeit gemeinsam fortzuführen. Die bisherigen Ergebnisse gaben ihnen Hoffnung, dass sie das aromatische Prinzip der Vanille isolieren und kommerziell nutzen könnten. Es dauerte noch zwei Jahre und unzählige Experimente, bis sie erfolgreich waren.

Zunächst sammelten sie im Frühjahr und Sommer 1873 in mühevoller Kleinarbeit genügend Cambialsaft, um daraus rund 2,5 Kilogramm Coniferin zu gewinnen. Mit diesem Material konnten sie Haarmanns Forschungen fortsetzen. Sie wiederholten den Versuch, Coniferin zu oxidieren, um Coniferylalkohol abzuspalten, und erhielten nach sechs bis acht Tagen eine weiße, flockig-kristalline Masse. Sie identifizierten Glucose und eine Verbindung, deren Zusammensetzung nach der Elementaranalyse durch die Formel C8H8Ow beschrieben werden konnte.

Sie waren davon überzeugt, dass es sich bei der aus Coniferin gewonnenen, wohlriechenden Substanz um eine bekannte, bisher nur in der Natur vorkommende Verbindung handelte, die 1872 von dem französischen Chemiker Pierre-Paulin Carles beschrieben und von ihm als „Vanillin“ bezeichnet worden war. Haarmann und Tiemann gingen davon aus, dass sie die wichtigste geruchs- und geschmacksgebende Komponente der Vanilleschote synthetisiert hatten, und behaupteten, ausschließlich diese Verbindung sei für das angenehme Aroma der Vanille verantwortlich. Heute wissen wir, dass Vanillin zwar der dominierende Geschmacksträger ist, dass sich das komplexe Aroma der Vanille jedoch aus mehreren hundert Komponenten zusammensetzt, von denen etwa 35 entscheidend zum typischen Aroma beitragen, auch wenn sie nur in geringen Mengen vorkommen.

Haarmann hatte nicht die Absicht, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Er wollte die Ergebnisse seiner Dissertation kommerziell verwerten und in die Fußstapfen seines Vaters treten. Eine kühne Idee, denn wer brauchte schon die synthetische Nachbildung eines Luxusgewürzes, das damals nur die Wohlhabenden verwendeten?

Einige Investoren, darunter sein Vater, versorgten ihn dennoch mit dem nötigen Startkapital, und 1874 gründete Haarmann in seiner Heimatstadt ein eigenes Unternehmen. In der Fabrik sollte aus dem Holz von Nadelbäumen Vanillin hergestellt werden. Haarmann's Vanillinfabrik in Holzminden war weltweit das erste Unternehmen, das einen synthetischen Duft- oder Geschmacksstoff technisch herstellte. Haarmanns Geschäftssinn zeigte sich schon früh: Er meldete seine Erfindung zum Patent an und erhielt dieses am 10. April 1874 von der herzoglichen Kreisdirektion Braunschweig-Lüneburg für die Dauer von fünf Jahren.

Haarmanns Idee war es, sein Produkt an Großunternehmer wie die Schokoladenindustrie, aber auch an andere Teile der Lebensmittelindustrie sowie an Bäckereien, Hersteller von Speiseeis und an Hausfrauen zu verkaufen. Allerdings fand das neue Vanillin zunächst wenig Anklang. Um dies zu ändern, musste Haarmann nachweisen, dass das synthetische mit dem natürlichen Vanillin identisch und außerdem deutlich preiswerter war. Gemeinsam mit Tiemann musste er eine Methode entwickeln, um den Gehalt an Vanillin in den Schoten zu bestimmen, da man davon ausging, dass dieser bei den verschiedenen Sorten stark schwankte. 1875 hatten die beiden ein Verfahren erarbeitet, mit dem sich der Vanillingehalt abhängig von Erntejahr und Qualität ermitteln ließ. Auf dieser Basis war es möglich, den Preis für natürliches Vanillin zu berechnen. Die ermittelten Werte lagen zwischen 6,60 und 25,60 Reichsmark (ca. 33 bis 128 Euro) pro Gramm. Damit war der als ungeheuerlich bezeichnete Preis von 7 bis 9 Reichsmark pro Gramm für Vanillin gerechtfertigt.

Die mittlerweile in Haarmann & Reimer umbenannte Firma zielte insbesondere auf Schokoladenhersteller ab. Nach ihren Berechnungen verbrauchten diese Hersteller 1879 in Deutschland etwa 3.000 bis 4.000 Kilogramm Vanille, für das sie zwischen 180.000 und 240.000 Reichsmark bezahlen mussten. Der Ersatzstoff, synthetisches Vanillin, würde dagegen nur 84.000 bis 112.000 Reichsmark kosten. Allein in Deutschland ergab sich somit ein Einsparpotenzial von rund 100.000 Reichsmark. Weltweit errechneten die Unternehmer einen Verbrauch von 50.000 Kilogramm Vanille oder 1.000 Kilogramm Vanillin und eine Ersparnis von 1.400.000 Reichsmark. Nachdem es Haarmann 1874 gelungen war, Vanillin synthetisch herzustellen, gründete er in Holzminden Haarmann's Vanillinfabrik. Sie gilt als die weltweit erste Fabrik, die einen synthetischen Duft- oder Geschmacksstoff technisch herstellte. Gemeinsam mit Ferdinand Tiemann und Karl Reimer, die wie Haarmann im Labor von August Wilhelm Hofmann ausgebildet wurden, entwickelte sich Haarmann & Reimer zu einem der größten und führenden Hersteller von Duft- und Geschmacksstoffen. Aus diesen Anfängen entstand eine Branche, die systematisch nach Aromakomponenten suchte, die sich auf chemischem Wege herstellen ließen. Dabei musste zunächst das aromatische Prinzip der betreffenden Pflanze identifiziert werden, um es anschließend synthetisch nachbilden zu können. Haarmann war ein überaus risikofreudiger Unternehmer, der seine Aktivitäten schon früh auf Frankreich ausdehnte – ein Land, dessen Beziehungen zu Deutschland damals äußerst angespannt waren. Haarmanns Unternehmen war ständig auf der Suche nach neuen Erfindungen, die es dann erfolgreich auf den Markt brachte. Zusammen mit seinem Freund und wissenschaftlichen Betreuer Ferdinand Tiemann entdeckte Haarmann die Stoffgruppe der Jonone und Methyljonone und erleichterte durch niedrige Herstellungskosten zudem die Verfügbarkeit von Cumarin, das von William Henry Perkin synthetisiert worden war. Mit all diesen Aktivitäten erwies sich Haarmann als einflussreicher und visionärer Entrepreneur.